Megatrend Digitalisierung: DVBS-Fachtagung über den Digitalisierungsprozess in der Arbeitswelt
Am 23. September fand in Marburg im Rahmen der 100-Jahrfeier des Deutschen Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e.V. (DVBS) die Fachtagung „Megatrend Digitalisierung“ statt.
Im Fokus der Fachtagung stand die zunehmende Digitalisierung, die alle gesellschaftlichen Bereiche von der Industrie 4.0, der Verwaltung 2.0, E-Gouvernement, E-Health, über E-Commerce, E-Traffic bis zur vernetzten Küchenmaschine mit Touchscreen umfasst. Aus der Perspektive blinder und sehbehinderter Menschen wurden vor diesem Hintergrund Gefährdungen und Chancen ihrer Teilhabe in Beruf und Gesellschaft erörtert und die Bedingungen für barrierefreie Selbstbestimmung diskutiert. Referenten gaben in Initialvorträgen Diskussionsanregungen zu Chancen und Risiken für die Teilhabe sehbehinderter und blinder Menschen in der Arbeitswelt.
Vor- und Nachteile digitaler Transformationen: Neue Chancen und Risiken auf dem Arbeitsmarkt
Die Tagung startete mit einem Vortrag von Prof. Dr. Frank Schönefeld, Dozent an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Dresden. Unter dem Titel „Mit zunehmender Digitalisierung leben – Perspektiven und Auswirkungen in Wirtschaft und Arbeitswelt, staatlichem Handeln und gesellschaftlichem Leben“ sprach der Schönefeld über das digitale Zeitalter, digitale Transformationen und deren Vor- und Nachteile. Volkswirtschaften erleben einen radikalen Wandel durch die Digitalisierung, der nicht nur wirtschaftliche Aspekte, sondern auch gesellschaftliche Prozesse mit sich bringe. Die digitale Welle, die die Gesellschaft seit einigen Jahren erfasst habe, betreffe nicht nur die Unterhaltungsmedien, sondern auch Arbeitsabläufe und habe so direkte Auswirkungen auf alle Bereiche des täglichen Lebens. Ganze Berufsfelder erleben seit Jahren einen Prozess der Digitalisierung: Die Digitalisierung stelle viele bestehende Berufe vor neue Herausforderungen, andererseits entstehen durch sie vollkommen neue Berufe – vor allem im Bereich des E-Business, des digitalen Marketings oder der sozialen Netzwerke. „Neue Technologien können zum einen dafür sorgen, dass Barrieren gesenkt werden und Blinde und Sehbehinderte einen vereinfachten Zugang und eine größere Teilhabe erreichen“, so Schönefeld. Andererseits sieht er auch das Risiko, dass blinde und sehbehinderte Arbeitskräfte komplett ausgeschlossen werden, wenn der Umgang mit diesen Technologien nicht hinreichend barrierefrei gestaltet wird. Digitalisierung als Fluch und Segen für sehbehinderte Menschen.
Digitalisierung als Chance der Inklusion
Aus diesem Grund müssen Software-Entwickler und Arbeitgeber Chancengleichheit schaffen, damit auch Sehbehinderte mit den neuen Technologien arbeiten können. Anstoß hierfür gab Anne-Marie Rangott von T-Systems in ihrem Initialvortrag „1, 2, 3, barrierefrei. Barrierefreie Informationstechnologie im Arbeitsalltag“. Sie sieht in der Digitalisierung eine reale Chance der Inklusion: „Die digitale Welt birgt nicht nur Stolperfallen für behinderte Nutzer. Richtig aufbereitet eröffnet sie behinderten Menschen den Zugang zu Informationen und Angeboten und gibt ihnen auch die Möglichkeit, gleichberechtigt und gleichwertig am Arbeitsprozess teilzunehmen.“ Um diese Möglichkeiten ausschöpfen zu können müssten zunächst konkrete Anforderungen definiert und Software-Entwickler für das Thema sensibilisiert werden. Barrierefreiheit sei eigentlich keine große Hürde und kein immenser Kostenträger – trotz der in Unternehmen konträren Auffassung. „Wenn bereits in der Entwicklung neuer Software die Anforderungen der späteren Anwendungsnutzer berücksichtigt werden, ist eine nachträgliche, aufwendige Umrüstung nicht notwendig“, so die Referentin. „Steht das Softwarekonzept, kann ein Konzept-Review mit Schwerpunkt User Experience und Accessibility folgenschwere Entwicklungsdefizite vermeiden.“
Ein Ansatz um Barrierefreiheit in traditionellen Stammbelegschaften frühzeitig in den IT-Entwicklungsprozessen zu implementieren, seien betriebliche Zielvereinbarungen, ergänzt BIT inklusiv Projektleiter Karsten Warnke. Jedes neue IT-Projekt biete die Chance, die Umsetzung von Softwareergonomie und Barrierefreiheit vorbildlich zu regeln. Sei die Entscheidung für Barrierefreiheit erst einmal gefallen, biete sich ein systematisches Modell für die Implementierung der Barrierefreiheit in IT-Entwicklungsprozessen geradezu an. Warnke verweist an dieser Stelle auf die Vorgehensweise von T-Systems, die dies sehr anschaulich zeige.
Digitalisierungsprozess in der Arbeitswelt: Neue Aufgaben und Hindernisse – aber auch Chancen
Warnke schließt sich Rangotts Meinung an. „Technisch gesehen ist eine barrierefreie digitale Arbeitswelt machbar. Gesellschaftlich gesehen wird die Barrierefreiheit in der digitalen Arbeitswelt jedoch kein Selbstläufer sein,“ ergänzt der Diplomsoziologe. Momentan gäbe es in der digitalen Arbeitswelt leider kaum Platz für inklusive Arbeitsformen, da hierfür strukturelle Voraussetzungen und der politische Wille fehlen. Künftig werde digitales Arbeit daher weitgehend von virtuellen Arbeitsbeziehungen geprägt sein, was die kollektive Durchsetzbarkeit barrierefreier IT erschweren wird.
Aufgabe des DVBS sei es, alle Ansätze zu unterstützen, die eine barrierefreie, inklusive, digitale Arbeitsgesellschaft fördern. Mitglieder und Vorstand müssen sich überlegen, wie der Verein hierfür aufgestellt sein müssen. „Es muss gelingen, mit geeigneten Bündnispartnern, mit Kostenträgern, BfWs/BBWs, mit IT-Entwickelnden, mit Unternehmen und öffentlichen Verwaltungen gemeinsam Instrumente zur Durchsetzung der IT-Barrierefreiheit als Voraussetzung inklusiver Arbeitsbedingungen zu entwickeln,“ fordert Warnke. „Es muss möglich sein, dass in einer digitalen Arbeitswelt nicht Technik, sondern der Mensch im Mittelpunkt steht.“