Marburg, 23. Sept. 2016: In fünf Workshops diskutierten Mitglieder des Deutschen Vereins der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e.V. (DVBS) mit Fachleuten die zunehmende Digitalisierung in allen gesellschaftlichen Bereichen. Dafür standen die Stichworte Arbeit 4.0, Verwaltung 2.0, E-Gouvernement, E-Health, E-Commerce, E-Traffic. Selbst die vernetzte Küchenmaschine mit Touchscreen wurde nicht ausgelassen. Aus der Perspektive blinder und sehbehinderter Menschen wurden vor diesem Hintergrund Gefährdungen und Chancen ihrer Teilhabe in Beruf und Gesellschaft erörtert und die Bedingungen für barrierefreie Selbstbestimmung behandelt und ein Forderungskatalog aufgestellt.

Vor- und Nachteile digitaler Transformationen
Die Tagung startete mit einem Vortrag von Prof. Dr. Frank Schönefeld, Dozent an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Dresden. Unter dem Titel „Mit zunehmender Digitalisierung leben – Perspektiven und Auswirkungen in Wirtschaft und Arbeitswelt, staatlichem Handeln und gesellschaftlichem Leben“ sprach Schönefeld über das digitale Zeitalter, digitale Transformationen und deren Vor- und Nachteile.

Die digitale Welle, die die Gesellschaft seit einigen Jahren erfasst habe, betreffe nicht nur die Unterhaltungsmedien, sondern auch Arbeitsabläufe und habe direkte Auswirkungen auf alle Bereiche des täglichen Lebens. Die Digitalisierung stelle viele bestehende Berufe vor neue Herausforderungen. Gleichzeitig entstehen vollkommen neue Berufe – vor allem im Bereich des E-Business, des digitalen Marketings oder der sozialen Netzwerke. „Neue Technologien können zum einen dafür sorgen, dass Barrieren gesenkt werden und Blinde und Sehbehinderte einen vereinfachten Zugang und eine größere Teilhabe erreichen“, so Schönefeld. Andererseits sieht er auch das Risiko, dass blinde und sehbehinderte Arbeitskräfte komplett von Arbeitsprozessen ausgeschlossen werden, wenn der Umgang mit diesen Technologien nicht hinreichend barrierefrei gestaltet wird.

Workshop 5 „Barrierefreie digitale Arbeitswelt ist machbar!“

Im Workshop 5 der Fachtagung wurde diskutiert, ob die Informationstechnik in der digitalen Arbeitswelt barrierefrei gestaltbar ist. Software-Entwickler und Arbeitgeber müssen Chancengleichheit schaffen, damit auch blinde und sehbehinderte Menschen mit den neuen Technologien arbeiten können. Anstoß hierfür gab Anne-Marie Rangott von T-Systems in ihrem Impulsvortrag „1, 2, 3, barrierefrei. Barrierefreie Informationstechnologie im Arbeitsalltag“. Sie sieht in der Digitalisierung eine reale Chance der Inklusion: „Die digitale Welt birgt nicht nur Stolperfallen für behinderte Nutzer. Richtig aufbereitet eröffnet sie behinderten Menschen den Zugang zu Informationen und Angeboten und gibt ihnen auch die Möglichkeit, gleichberechtigt und gleichwertig am Arbeitsprozess teilzunehmen.“ Um diese Möglichkeiten ausschöpfen zu können müssten zunächst konkrete Anforderungen definiert und Software-Entwickler für das Thema sensibilisiert werden. Barrierefreiheit sei eigentlich keine große Hürde und kein immenser Kostenträger. „Wenn bereits in der Entwicklung neuer Software die Anforderungen der späteren Anwendungsnutzer berücksichtigt werden, ist eine nachträgliche, aufwendige Umrüstung nicht notwendig“, so die Referentin. „Steht das Softwarekonzept, kann ein Konzept-Review mit Schwerpunkt User Experience und Accessibility folgenschwere Entwicklungsdefizite vermeiden.“

Karsten Warnke, BIT inklusiv Projektleiter
BIT inklusiv-Projektleiter Karsten Warnke

Ein Ansatz um Barrierefreiheit in traditionellen Stammbelegschaften frühzeitig in den IT-Entwicklungsprozessen zu implementieren, seien betriebliche Zielvereinbarungen, ergänzt BIT inklusiv-Projektleiter Karsten Warnke. Jedes neue IT-Projekt biete die Chance, die Umsetzung von Softwareergonomie und Barrierefreiheit vorbildlich zu gestalten. Sei die Entscheidung für Barrierefreiheit erst einmal gefallen, biete sich ein systematisches Modell für die Implementierung der Barrierefreiheit in IT-Entwicklungsprozessen geradezu an.
Warnke schließt sich Rangotts Meinung an. „Technisch gesehen ist eine barrierefreie digitale Arbeitswelt machbar. Gesellschaftlich gesehen wird die Barrierefreiheit in der digitalen Arbeitswelt jedoch kein Selbstläufer sein,“ ergänzt er. Momentan gäbe es in der digitalen Arbeitswelt leider kaum Platz für inklusive Arbeitsformen, da hierfür strukturelle Voraussetzungen und der politische Wille fehlten. Künftig werde digitales Arbeiten weitgehend von virtuellen Arbeitsbeziehungen geprägt sein, was die kollektive Durchsetzbarkeit barrierefreier IT erschwere.
„Kostenträgern, BfWs/BBWs, IT-Entwickelnden, Unternehmen und öffentlichen Verwaltungen müssen gemeinsam Instrumente zur Durchsetzung der IT-Barrierefreiheit als Voraussetzung inklusiver Arbeitsbedingungen entwickeln,“ fordert Warnke. „Es muss möglich sein, dass in einer digitalen Arbeitswelt nicht Technik, sondern der Mensch im Mittelpunkt steht.“

Fluch und Segen der Digitalisierung